Warum stellen wir uns oft blind gegenüber Problemen, die eigentlich offensichtlich sind – sei es der Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit oder die Konsequenzen unseres eigenen Handelns? Der Beitrag beleuchtet das Phänomen der „Wilful Blindness“ und zeigt, wie wir unsere blinden Flecken erkennen und gezielt gegensteuern können.
Vor einiger Zeit habe ich hier einen Beitrag verfasst, der erklärt, dass Entscheidungsträger*innen in Unternehmen sich oft sich oft nicht bewusst über ihre problematischen Entscheidungen und Verhaltensweisen sind – sie sind „ethisch blind“. Es gibt aber auch Fälle, in denen Entscheidungsträgerinnen – genauso wie wir alle – zwar über Probleme informiert werden, diese jedoch aus unterschiedlichen Gründen bewusst ausblenden.
Wilful Blindness – Sich „blind stellen“
Die amerikanische Unternehmerin und Autorin Margaret Heffernan bezeichnete das in ihrem bereits 2011 erschienenen Buch als „Wilful Blindness“ (etwa: absichtliche Blindheit), als ein bewusstes „Sich blind stellen“. Heffernan illustriert dies mit zahlreichen Beispielen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, unter anderem Wissenschaflter*innen, die die krebserregende Wirkung von Röntgen-Strahlen ignorierten, Ehepartnerinnen von Verbrechern, die trotz erdrückender Beweislage noch immer an deren Unschuld glaubten; oder Soldat*innen, die die Misshandlung von Gefangenen durch ihre Kamerad*innen nicht wahrhaben wollten.
Heffernan’s Buch scheint aktueller den je. Ein kurzer Blick allein in die Nachrichten der letzten Tage genügt: Obwohl 2024 das heißeste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn war, und Umweltkatastrophen stetig zunehmen (in Kalifornien wütet beispielsweise gerade ein verheerendes Feuer), und die Forschung eindeutige Befunde dazu liefert, bestreiten immer noch viele den menschengemachten Klimawandel. Politische Führer (und vereinzelt Führerinnen), die einfache Botschaften und „Lösungen“ verbreiten (Wasser muss nicht gespart werden, es kommt vom Regen; Entwurmungsmittel hilft gegen Covid; Hitler war ein Kommunist…) erhalten verstärkt Zuspruch. Und einflussreiche Wirtschaftsakteure ohne demokratische Legitimation greifen immer häufiger und offener in Politik und Medien ein, um Gesellschaften „fortschrittlicher“ zu machen, indem sie Regulationen und Einschränkungen abbauen und ihre eigenen unternehmerischen Freiheiten zur Profitmaximierung ausweiten (z.B., in einer eigens geschaffenen Abteilung für Regierungs-Effizienz). Kritiker*innen, mich eingeschlossen, fragen sich: Wie können „diese Menschen alle“ nur so blind gegenüber offensichtlichen Problemen sein?
Doch diese Frage führt leicht zu einer selbstgerechten Haltung. Denn wir alle stellen uns oft blind gegenüber den Konsequenzen unseres Verhaltens – sei es im Privat- oder Berufsleben. Obwohl den meisten von uns „irgendwie bewusst“ ist, dass unsere Lebensmittelproduktion (insbesondere von Fleisch und anderen Tierprodukten) großes Leid und Umweltschäden hervorruft, gelingt es uns, das beim Essen eines tollen Steaks oder eines Stücks Käse auszublenden. Wir haben irgendwo gehört, dass die Produktionsbedingungen von Billig-Kleidung in vielen Fällen menschenunwürdig sind, vergessen das aber gerne, wenn wir ein tolles Kleidungsstück oder coole Sneakers zum Schnäppchenpreis ergattern können. In unserem Job sind wir oft mit dem Tagesgeschäft so eingedeckt und in Belohnungsstrukturen gefangen, dass wir nicht hinterfragen, welchen Beitrag wir zur Aufrechterhaltung von Problemen und Missständen leisten, geschweige denn, was wir daran ändern könnten. Häufig sind es erst Unfälle (z.B. Rana Plaza) oder Skandale (z.B. VW Diesel Skandal), die uns dazu zwingen, unser eigenes Verhalten zu reflektieren. Als Kollektiv sind wir, so scheint es, in unseren westlichen Gesellschaften so überzeugt vom Narrativ des kontinuierlichen Wachstums, dass wir zwar „irgendwie schon wissen“, dass die Erde Grenzen hat, die in vielen Fällen bereits überschritten sind, aber trotzdem weiter machen wie bisher.
Gründe, sich blind zu stellen
Margaret Heffernan nennt mehrere Gründe, warum Menschen oft sehenden Auges Entscheidungen treffen, die ihren eigenen Werten widersprechen oder schädlich sind.
Kognitive Dissonanz. Insbesondere wenn es um unser eigenes Verhalten und unsere eigenen Entscheidungen geht ist das Bedürfnis nach dem was Sozialpsycholog*innen als „kognitive Konsonanz“ verstehen, also, dass unsere Werte, Überzeugungen und unser Verhalten in Einklang miteinander stehen. Tun sie das nicht, spricht man von „kognitiver Dissonanz“, also einem Widerspruch von dem was wir fühlen, denken und tun. Wir empfinden in der Regel kognitive Dissonanz als unangenehm und versuchen sie zu vermeiden. Wir können dazu entweder unsere Werte und Einstellungen ändern (schwierig!), unser Verhalten in Einklang mit unseren Werten bringen (ebenfalls schwierig!) oder die Situation so umdeuten, dass sie in Einklang mit unseren Verhaltensweisen steht (z.B. „Mein Verhalten ist ja eigentlich garnicht so umweltschädlich ist, andere machen das auch, und ich habe ja zum Ausgleich immerhin kein Auto). Meistens ist es am Einfachsten, die Situation umzudeuten, um kognitive Dissonanz zu vermeiden.
Wunsch nach Bestätigung des eigenen Weltbilds. Menschen halten lieber an ihrem etablierten Weltbild fest, statt es zu hinterfragen. Das Verändern der eigenen Perspektive ist unangenehm und anstrengend, daher umgeben wir uns lieber mit Leuten, die ähnlich denken und handeln wie wir. Besonders wenn es um Lebensstilfragen wie Fleischkonsum oder Autofahren geht, erleben wir abweichendes Verhalten anderer oft als Kritik und Provokation. Veganer*innen etwa werden häufig angefeindet, obwohl sie niemanden direkt kritisieren – ein Ausdruck des Bedürfnisses von Fleisch-Esser*innen, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. (Umgekehrt gilt das Bedürfnis nach Bestätigung natürlich auch für überzeugte Veganer*innen, die beispielsweise mit gesundheitlichen Argumenten für Fleischkonsum konfrontiert sind.)
Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit. In seinem Buch „How to Talk to a Science Denier“ (2022) argumentiert der Sozialwissenschaftler Lee McIntyre anhand seiner Erfahrungen mit Personen, die extrem antiwissenschaftliche Sichtweisen vertreten (v.a., „Flat Earthers“, die überzeugt sind, die Erde sei eine Scheibe), dass bestimmte Sichtweisen identitätsstiftend sind und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen ermöglichen. Gemeinsame Sichtweisen, die noch dazu von „den anderen“ stark angegriffen werden führen zu Gruppenzusammenhalt und einem „Wir-Gefühl“ (z.B. „wir gegen das System“, „wir gegen den Klimawahnsinn“). Insbesondere bei so tief verankerten Ideologien akzeptieren wir eher Information, die in unser Weltbild passt, statt unser Weltbild anhand neuer Information zu verändern – auch um unsere Gruppenzugehörigkeit (z.B. im Freundeskreis, am Arbeitsplatz) nicht zu gefährden.
Mentale Überforderung. Vor allem unter Bedingungen von Stress, Müdigkeit und Informationsüberfluss sind wir als Menschen oft kognitiv nicht mehr in der Lage, komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Stattdessen blenden wir lieber widersprüchliche Informationen aus und machen weiter wie bisher. Vielfach wird dann auch die Verantwortung an jemand anderen delegiert: „Wenn das alles wahr wäre und es wirklich so schlimm wäre, würden sich unsere Politiker*innen doch darum kümmern!“ Dazu kommt noch der sogenannte „bystander“ oder Zuschauer-Effekt: Selbst wenn uns in einer Situation klar ist, dass etwas getan werden muss, gibt es doch genug andere Leute, die jetzt etwas tun könnten und sollten! Insbesondere wenn wir die Konsequenzen unseres Verhaltens nicht unmittelbar vor Augen haben ist leicht, sie in unserem hektischen Alltag auszublenden, weil wir gerade Dinge zu tun haben, die unmittelbar wichtiger sind – z.B. das aktuelle Forschungsprojekt abschließen, den Kundenauftrag erledigen, die Kinder versorgen.
Bewusst hinschauen
Wenn wir uns möglichen negativen Ereignissen und negativen Konsequenzen unseres eigenen Verhaltens gegenüber blind stellen, kann es passieren, dass wir unabsichtlich – als Konsument*innen, Entscheidungsträger*innen, oder Wähler*innen – entgegen unserer eigenen Werte und Überzeugungen handeln. Wie können wir dem entgegen wirken?
Sich mit diversen Menschen umgeben. Der Austausch mit Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen, Professionen oder Kulturen hilft, alternative Perspektiven zu verstehen und eigene Überzeugungen zu hinterfragen.
Sich bewusst abweichenden Meinungen und Befunden aussetzen. Im Film „Don’t look up„, wird das bewusste Wegschauen als politischer Slogan verwendet , um keine unangenehmen Maßnahmen gegen eine drohende Katastrophe ergreifen zu müssen. Um absichtliche Blindheit zu vermeiden, gilt es aber, genau das zu tun: Anstatt unliebsame Informationen auszublenden, sollten wir bewusst nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und abweichenden Meinungen suchen. Wichtig ist, nicht einzelne Daten herauszupicken, die den eigenen Wünschen entsprechen, sondern verschiedene Quellen zu vergleichen.
Entsprechend der eigenen Werte und Überzeugungen handeln. Wenn man selbst in einer Entscheidungsposition ist, kann es sinnvoll sein, sich bewusst zu machen, was einem selbst am Herzen liegt und wie man sich gerne verhalten möchte, um danach die eigenen Entscheidungen und Handlungen zu reflektieren: Wo steht mein Verhalten in Einklang mit meinen Werten, wo nicht? Und was möchte ich stattdessen tun?
Fazit: Der Mut, hinzusehen
Wilful Blindness kann uns alle betreffen. Doch wir können aktiv daran arbeiten, unsere eigenen blinden Flecken zu erkennen und zu hinterfragen. Ob im Alltag oder im Beruf – der erste Schritt ist, unangenehme Wahrheiten zu akzeptieren und die Konsequenzen unseres Handelns bewusst wahrzunehmen.