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Wenn Routinen „blind“ für unethische Praktiken in Unternehmen machen

Oft wird Manager*innen unterstellt, dass sie bewusst unethisch handeln und Umweltschäden oder ausbeuterische Praktiken in Kauf nehmen, nur um Profit zu maximieren. In vielen Fällen dürften ihnen aber die ethischen Konsequenzen ihrer Handlungen im Unternehmensalltag gar nicht bewusst sein – sie handeln „ethisch Blind“. Manager*innen sind besonders anfällig für ethische Blindheit, wenn organisationale Routinen im Spiel sind.

An den meisten großen gesellschaftlichen Problemen – von der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bis zur Zerstörung unserer Umwelt – sind direkt oder indirekt Unternehmen beteiligt. All diese Unternehmen werden von Manager*innen geführt, die tagtäglich Entscheidungen mit massiven sozialen und ökologischen Konsequenzen treffen. Meist wird angenommen, das Entscheidungsträger*innen aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus bewusst „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen, um den Erwartungen von Aktionär*innen und anderen wichtigen Interessensgruppen gerecht zu werden. Beispielsweise, so die gängige Vorstellung, würden sich Manager*innen großer Textilkonzerne die Vor- und Nachteile eines gewissen umweltschädlichen (z.B. Entsorgung giftiger Abwässer über Flüsse) oder ausbeuterischen Verhaltens (z.B. Anstellung von Menschen zu Dumping-Löhnen in Sweat-Shops) vor Augen führen und sich dann immer wieder bewusst dafür entscheiden, dieses Verhalten trotzdem zu zeigen, weil dieses eben kostengünstiger sei. Während in einem Teil der Fälle Manager*innen bewusst unethische Entscheidungen treffen mögen, gibt es für viele solcher Situationen eine alternative Erklärung: „Ethical Blindness“, also „ethische Blindheit“ (Bazerman & Tenbrunsel, 2011; Palazzo et al., 2012).

Ethische Blindheit

Ethische Blindheit bedeutet, dass Akteur*innen in Situationen, die potenziell negative Konsequenzen für andere Menschen oder die Umwelt haben können, unwissentlich und unabsichtlich unethisch handeln – sie sind temporär „ethisch blind“. Anders gesagt, der ethische Aspekt der Situation ist völlig ausgeblendet. Das bekannteste Beispiel für ethische Blindheit ist der sogenannte „Ford-Pinto-Skandal“ des Automobilherstellers Ford aus den 1970ern (Gioia, 1992): Der Kleinwagen des Modells „Pinto“ zeigte aufgrund seiner Bauweise eine gewisse Tendenz, bereits bei kleinen Auffahrunfällen in Flammen aufzugehen. Obwohl dieses Problem bei Ford bekannt war, kamen über 20 Personen ums Leben, bevor Ford die Rückrufaktion startete. Der Grund war, dass die Kosten für Schadenersatz bei Todesfällen oder Verletzungen deutlich unter den mit dem „Pinto“ erzielten Gewinnen lagen. Die ethische Dimension ihrer Untätigkeit war vielen Verantwortlichen bei Ford anscheinend nicht bewusst: Dennis Gioia, heute ein bekannter Managementprofessor, war seinerzeit bei Ford als „Rückruf-Manager“ für etwaige Rückrufaktionen mitverantwortlich. Auch er handelte nicht, sondern betrachtete sein Nicht-Handeln damals aufgrund der Kosten-Nutzen-Abwägung als „gute Geschäfts-Entscheidung“ (Gioia, 1992, S. 382). In der Situation war er, wie er in seinem sehr selbstkritischen Artikel ausführlich darlegt, „ethisch blind“. Erst später wurden ihm die ethischen Implikationen seines Verhaltens deutlich. Ethische Blindheit kann also durchaus schwere – im Fall des Ford „Pinto“ tödliche – Konsequenzen haben. Wodurch entsteht sie aber?

Ethische Blindheit aufgrund von rigiden „kognitiven Frames“

Laut früherer Forschung liegt die Hauptursache für ethische Blindheit in rigiden „kognitiven Frames“ (engl. „kognitive Rahmen“; Palazzo et al., 2012). Frames bilden den Referenzrahmen, mit dem eine Situation bewertet wird. Beispielsweise kann eine Situation mit einem technischen, betriebswirtschaftlichen oder ethischen Frame, d.h. aus technischer, betriebswirtschaftlicher oder ethischer Perspektive betrachtet werden. Je nachdem, welcher Frame zur Anwendung kommt, wird die Situation (z.B. gelegentliche Explosionen von Fahrzeugen) dann als Problem anerkannt – oder eben nicht.

Frames erlauben durch die automatisierte und selektive Wahrnehmung eine schnelle Einschätzung von Situationen und erhöhen die Effizienz menschlichen Denkens und Handelns. Die Kehrseite ist jedoch die Gefahr, relevante (z.B. ethische) Aspekte dieser Situation „auszublenden“. Unter besonderen Bedingungen – und dies ist der Fall bei sogenannten rigiden Frames – kann von den handelnden Personen überhaupt nur der eine Aspekt des Phänomens (z.B. wirtschaftlicher Aspekt) wahrgenommen werden und die Betrachtung der Situation aus einer anderen (z.B. ethischen) Perspektive ist dann nicht mehr möglich. Wenn in einem Unternehmen ein Mikrokosmos aus rigiden Frames entsteht, können auch unethische Entscheidungen innerhalb dieses Mikrokosmos als normal, rational und moralisch aufgefasst werden auch wenn außerhalb des Unternehmens das Verhalten völlig unethisch erscheint.

Ethische Blindheit aufgrund von Routinen

Neben der Entstehung durch kognitive Frames gibt es, wie ich vor kurzem in einem Artikel gemeinsam mit dem Wirtschaftsethiker Markus Scholz ausführlich beschrieben habe, aber noch eine weitere Ursache von ethischer Blindheit: organisationale Routinen (Kump & Scholz, 2022). Routinen sind (häufig) wiederkehrende Verhaltensweisen in Unternehmen, an denen mehrere Personen beteiligt sind. Routinen können formalisiert sein (z.B. Einkaufsprozesse, Auftrags-Erteilung) oder informell ablaufen.

Routinen können aus zwei Gründen zu ethischer Blindheit beitragen. Erstens werden sie in „Routine-Situationen“ (z.B. eine neue Kollektion soll produziert werden, Abfall muss entsorgt werden) relativ automatisiert ausgeführt, ohne erforderliche Entscheidungen oder Absprachen zwischen Akteur*innen, ob und wie gehandelt werden sollte. Wenn die Situation nun eine unethische Komponente (z.B. Ausbeutung von Menschen, Umweltverschmutzung) hat, kann das dazu führen, dass über diesen Aspekt in der konkreten Situation gar nicht nachgedacht oder gesprochen wird – das Routine-Verhalten wird einfach ausgeführt. Der zweite Grund, warum Routinen zu ethischer Blindheit führen können, ist, dass mehrere Personen beteiligt sind, die möglicherweise gar keinen Überblick über die Gesamtsituation und somit über die Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens haben. Viele Personen tragen also möglicherweise routinemäßig (!) unwissentlich und unabsichtlich zu Ergebnissen bei, die ihren eigenen ethischen Grundsätzen widersprechen.

In unserem Artikel zur potenziell gefährlichen Rolle von Routinen nutzen wir das Beispiel von „racial profiling“, also dem routinemäßigen Kontrollieren von Personen unterschiedlicher Hautfarben bei Polizeikontrollen. Das einmalige Kontrollieren einer bestimmten Person in einer Polizeikontrolle ist noch keine unethische Handlung. Erst durch die unreflektierte routinemäßige Wiederholung von „racial profiling“-Routinen werden systematisch Personengruppen diskriminiert. Als weiteres Beispiel verwenden wir im Artikel jährliche Routinen zur Identifikation eines gewissen Prozentsatzes (z.B. 5%) der „schlechtesten Mitarbeiter*innen“ eines Unternehmens, die dann gekündigt werden („forced distribution“). Diese Methode ist in großen Unternehmen (z.B. Amazon) häufig im Einsatz und wird von vielen Managerinnen als geeignetes Motivationsinstrument erachtet. Dass dabei Personen großem psychischem Stress ausgesetzt sind und möglicherweise nach dem Verlust des Jobs keine neue Anstellung finden, wird in solchen Organisationen vielfach ausgeblendet.

Ähnlich wie kognitive Frames steigern Routinen die Effizienz im Organisationsalltag: Organisationsmitglieder führen regelmäßig ähnliche Abläufe aus und sind dadurch „eingespielt“. Der Koordinationsaufwand sinkt und die Qualität der Ergebnisse bleibt stabil. Solange keine Probleme auftreten, werden Routinen selten hinterfragt und verändert. Unethische Aspekte in alltäglichen Routinen bleiben dadurch möglicherweise über lange Zeit unerkannt. Das ist besonders gefährlich, wenn die Auswirkungen der Routinen nur schleichend sichtbar werden.

Ethische Blindheit überwinden

Auch wenn sicherlich nicht jegliches Management-Fehlverhalten auf ethische Blindheit zurückgeführt werden darf, wird die Möglichkeit, dass Manager*innen trotz guter Absichten unwissentlich unethisch handeln könnten bei der Frage nach unternehmerischer Verantwortung kaum in Betracht gezogen. Daher besteht die Gefahr, dass Unternehmen, die sich für soziale Verantwortung und ökologische Nachhaltigkeit einsetzen, eine Vielzahl von unethischen (Routine-)Entscheidungen und Situationen „übersehen“.

Wie können sich Unternehmen nun vor ethischer Blindheit schützen? Zunächst muss anerkannt werden, dass alle Menschen Entscheidungen aufgrund von kognitiven Frames treffen. Dann kann gezielt versucht werden, einseitige und rigide Frames zu vermeiden. Ein wichtiger Hebel kann sein, Organisationsmitglieder nach Gesichtspunkten der Diversität auszuwählen.

In Hinblick auf organisationale Routinen kann es hilfreich sein, bestehende Praktiken gezielt aus einer ethischen Perspektive zu betrachten. Mithilfe fokussierter Reflexion können unethische Verhaltensweisen identifiziert und bewusst neue Abläufe initiiert werden. Dazu kann es nötig sein, (teil-)automatisierte Prozesse zu ändern oder Evaluierungskriterien und Richtlinien und Standards anzupassen, damit sie den ethischen Ansprüchen des Unternehmens Rechnung tragen.

Zur Reduktion von ethischer Blindheit ist es wichtig zu verstehen, dass sich die betroffenen Personen in der Regel nicht bewusst unethisch (gierig, profitsüchtig, etc.) verhalten. Im Gegenteil, in vielen Fällen handelt es sich um Mitarbeitende, denen der Erfolg der Organisation besonders stark am Herzen liegt. Maßnahmen zur Vermeidung ethischer Blindheit sollten deshalb vor allem darauf abzielen, die vorübergehend „unsichtbare“ ethische Komponente einer Situation wieder bewusst zu machen und in den Blick zu rücken.

Weiterführende Literatur:

Bazerman, M. H., & Tenbrunsel, A. E. (2011). Blind Spots. Why we fail to do what’s right and what to do about it. Princeton University Press.

Gioia, D. A. (1992). Pinto fires and personal ethics: A script analysis of missed opportunities. Journal of Business Ethics, 11, 379–389.

Kump, B., & Scholz, M. (2022). Organizational routines as a source of ethical blindness. Organization Theory, 3, 1–24.

Palazzo, G., Krings, F., & Hoffrage, U. (2012). Ethical Blindness. Journal of Business Ethics, 109 (3), 323–338.

Oft wird Manager*innen unterstellt, dass sie bewusst unethisch handeln und Umweltschäden oder ausbeuterische Praktiken in Kauf nehmen, nur um Profit zu maximieren. In vielen Fällen dürften ihnen aber die ethischen Konsequenzen ihrer Handlungen im Unternehmensalltag gar nicht bewusst sein - sie handeln "ethisch Blind". Manager*innen sind besonders anfällig für ethische Blindheit, wenn organisationale Routinen im Spiel sind.