Gemeinsam mit meinem Kollegen Karl Schattenhofer habe ich in den letzten Jahren neun Teams aus fünf Organisationen begleitet, um zu verstehen, wie das sich-selbst-organisierende Team eigentlich in die Organisation kommt und was es dann genau tut, wenn es sich selbst organsiert – jenseits aller Konzepte, Ideen und Normen. Und eines unserer Ergebnisse: Es gibt ganz unterschiedliche Wege, wie die Selbstorganisation in die Teams kommt, hinter denen sich jedoch ein gemeinsamer roter Faden abzeichnet. Schauen wir auf vier Beispiele.
Organisation 1 – Wenn das Top-Management den Anfang macht.
2012 besuchten fünf Mitglieder der Geschäftsführung und des Managements einen Kongress im Herzen Europas, auf dem die damals wichtigsten Vertreter neuer agiler Aufbrüche in Organisationen Vorträge hielten. So sprachen beispielsweise Frederic Laloux, Gary Hamel und Heiko Fischer. Die Geschäftsführer und Manager waren begeistert. Ihnen war sofort klar: Das, was man hier gehört hatte, wollte man auch für die eigene Organisation. Die Idee, mit der man starten wollte, lautete: das Hierarchische durch eine zirkuläre Struktur ersetzen und mehr Verantwortung in die Teams geben. Noch am gleichen Abend entstand die (im Buch abgebildete) erste Zeichnung als Ausgangspunkt und Zielbild für die beschlossenen Transformation.
Ein halbes Jahr später wurde im Rahmen des Transformationsprozesses die neue Vision entwickelt und zeitgleich entschieden und kommuniziert, die Geschäftseinheit xyz in Richtung Selbstorganisation weiterzuentwickeln.
Organisation 2 – Schulungen als erster Schritt, denn wer es kennt, will vielleicht mehr.
2016 tauchte in ersten Gesprächen der Begriff „Selbstorganisation” auf – als vage Idee, um Entscheidungen flexibler und zügiger zu treffen. Im Herbst 2016 kam aus einem Team die Initiative, sich mit dem Thema Selbstorganisation konkreter auseinanderzusetzen. Die Geschäftsführerin griff den Vorschlag gern auf. Alle Mitarbeitenden wurden eingeladen, dazu ihre Ideen einzubringen. Ein Organisationsentwicklungs-Team wurde gegründet, das den ersten konkreten Vorschlag für den ABI-Weg zur Selbstorganisation erarbeitete.
Als erster Schritt wurde gemeinsam mit einem externen Berater eine Teamschulung entwickelt. Dieses Schulungskonzept enthielt bereits alle Grundbausteine der Selbstorganisation und machte sie für die Teams direkt erlebbar:
- Purpose-orientiertes Arbeiten,
- rollenbasiertes Arbeiten mit Entscheidungsautonomie innerhalb der Rolle,
- spannungsbasiertes Arbeiten mit offener Agenda,
- Entscheiden im Konsentverfahren,
- Unterscheidung zwischen Arbeit an und Arbeit in der Organisation etc.
Anfang 2017 gab die Mutterorganisation ein erstes, noch vorläufiges Okay, Selbstorganisation auszuprobieren. Der erste Prototyp dieser Schulung ging an den Start.
Organisation 3 – Selbstorganisation als Überlebensstrategie.
Ausgangspunkt für diese grundlegende Veränderung war eine existenzielle Krise des betroffenen Geschäftsbereichs: Der Vorstand hatte kein Vertrauen mehr in die Teamleistung und fasste den Beschluss, die Aufgabe der betroffenen Bereiche an einen externen Dienstleister zu vergeben und das bestehende Team organisatorisch abzuwickeln. Es folgte ein Anbietersichtungsverfahren ohne Beteiligung der betroffenen Organisation. Eine neue Führungskraft kam, die die Abteilung abwickeln sollte. Doch in der Krise und im gemeinsamen Gespräch entstanden plötzlich neue Ideen und Impulse. Nach einer Kennenlernphase und der Klärung der Ist-Situation traf das Team mit der neuen Führung die Entscheidung, dass sich etwas ändern muss. Gemeinsam entschied man, in den Ring zu steigen, sich an der Ausschreibung zu beteiligen und den Kampf um das eigene Überleben zu gewinnen. Eine konsequent holakratische Selbstorganisation wurde der Schlüssel zum Erfolg.
Organisation 4 – Selbstorganisation als Parallelwelt.
Eine neu formulierte Vision verlangte nach Ideen. Dieser Aufbruch wurde von den Verantwortlichen genutzt, Selbstorganisation als Thema und Arbeitsform in die Organisation einzubringen.
Der erste Impuls zu selbstorganisierten Teams entstand 2016, als die Personalstrategie auf die neue Vision auszurichten war. Erster Ideengeber war das Filmprojekt Augenhöhe (die wir im Buch vorstellen). Alle Mitarbeiter:innen wurden zu internen Augenhöhe & Popcorn Sessions eingeladen, in denen die Filme gezeigt und diskutiert wurden. Eine kleine Gruppe aus der Personal- und Organisationsentwicklung reiste zu den Augenhöhe-Netzwerkveranstaltungen, suchte den kollegialen Austausch zu den beteiligten Organisationen.
2016 wurden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem Workshop zur neuen Personalstrategie eingeladen, an dessen Ende eine bunte Sammlung an Themen, Ideen und Impulsen stand. Etwa 160 Personen hatten im Anschluss Interesse, daran weiterzuarbeiten. Die Initiatoren der Veranstaltung nahmen sich selbst beim Wort und beschlossen, es der Selbstorganisation zu überlassen, welche Themen von wem aufgegriffen und wie weiterbearbeitet wurden. Es gab ein Mailing an alle Mitarbeiter, in dem diese Themen vorgestellt und sie eingeladen wurden, Themen ihres Interesses auszuwählen, dazu Bearbeitungsteams zu gründen, um arbeitsfähig zu werden und loszulegen. Erstmals in der Geschichte der Organisation (und vermutlich der meisten Unternehmen) wurde keines der Themen delegiert – egal wie wichtig oder strategisch es war. Die Organisatoren mussten darauf vertrauen, dass etwas Konstruktives passieren würde. „Natürlich waren wir alle sehr gespannt, ob Interesse und Energie da waren und sich erste selbstorganisierte Teams gründen würden. Es war eine für die gesamte Organisation ungewohnte Situation. Wir waren sehr erleichtert, als sich dann die ersten vier selbstorganisierten Teams gründeten und an die Arbeit machten.”
Und der Rote Faden?
Bei aller Unterschiedlichkeit weist der Weg in die Selbstorgansatin einige Gemeinsamkeiten auf, die Mut machen können, „einfach mal anzufangen“:
- Der Startimpuls kommt sehr häufig aus der Mitte der Organisation. Es ist nicht nötig, immer auf das Go des Topmanagements zu warten.
- Es scheint notwendig, die Teams erstmal in Ruhe starten, ausprobieren, Erfahrungen sammeln zu lassen. In all unseren Partnerunternehmen wurden die Teams eine ganze Weile vor zu viel Kontrolle und Vorgaben abgeschirmt und es wurde ihnen Zeit gegeben, sich zu finden, zu entwickeln und Routinen zu etablieren.
- Eine weitere bedeutende Gemeinsamkeit ist die Freiwilligkeit. In all unseren Beispielen war die Selbstorganisation ein Angebot an die Teams. Sie war verknüpft mit der Frage: „Wollt ihr?“:
Die ausführlichen Entwicklungsgeschichten in die Selbstorganisation sowie unsere Beobachtungen dazu, wie Selbstorganisation und Führung in der Selbstorganisation nun tatsächlich funktionieren, können in unserem Buch nachgelesen werden:
Brinkmann, B. & Schattenhofer, K. (2022). Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation – Sechs Aufgaben, damit Teams arbeitsfähig werden – und welche Rolle Führung dabei spielt. Vahlen. Link zum Buch
Babette Brinkmann ist Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Organisations- und Gruppenpsychologie an der TH Köln. Sie ist Supervisorin (DGSv), Trainerin für Gruppendynamik (DGGO) und Mitglied bei Tops München-Berlin e.V.
Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Selbstorganisation, Diskurs und gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie soziale Nachhaltigkeit.