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Erblühen und nicht nur Wachsen – Das eigene Potential wirklich entfalten

Es gibt zwei Art von persönlichem Wachstum: Wachsen in die Höhe und Erblühen. Lina Maly bringt das in ihrem Song wunderbar zum Ausdruck. Es wird Zeit dem Erblühen mehr Aufmerksamkeit zu geben.

Die Wachstumsphilosophie „Höher, schneller, weiter“ dominiert immer mehr auch unser Verständnis von persönlicher Entwicklung und (Weiter-)Bildung. In unserem Wunsch, alles messbar und vergleichbar zu machen, haben wir unsere Bildungseinrichtungen in eine Richtung entwickelt, die das Potential des Individuums nicht mehr (in jedem Fall) entfaltet. Dabei sind wir in einer komplexer werdenden Welt immer mehr davon abhängig, das Potential einer jeden und eines jeden voll zu entfalten. Aber ein Schritt nach dem anderen.

Es gibt zwei Art von persönlichem Wachstum: Wachsen in die Höhe und Erblühen. Lina Maly bringt das in ihrem Song wunderbar zum Ausdruck. Es wird Zeit dem Erblühen mehr Aufmerksamkeit zu geben.

Was passiert in Bildungseinrichtungen und der Weiterbildung?

Schulen folgen einem Rahmenlehrplan. Die Wissensvermittlung ist in Fächer strukturiert, für die unterschiedliche Lehrer*innen zuständig sind. Unterrichtsstunden sind zeitlich vereinheitlicht. Ein Stundenplan organisiert, was wann von Montag bis Freitag passiert. Selten kommt es zu disziplinen-übergreifender Projektarbeit. Alltagsrelevantes Wissen wie Betriebswirtschaft oder Psychologie wird gar nicht vermittelt.

Der Erfolg der Wissensvermittlung wird in Tests ermittelt. Jedes Kind bekommt eine Note, die ihm im Vergleich zu anderen vermittelt, wie gut es war. Individualisierte und entwicklungsorientierte Feedbacks sind selten.

Ähnlich setzt es sich in Berufsschulen, Hochschulen und der Weiterbildung fort. Standardisierte Lernziele und darauf aufbauende Abschlüsse sind das Ziel der Teilnahme an Bildungsangeboten. Vermeintlich ist damit auch definiert, was gelernt und welche Kompetenzen erworben werden sollen. Nur was davon bereitet tatsächlich auf die anvisierten Arbeitsfelder vor und was lernt man fürs Leben? Und noch viel wichtiger: Sind das die richtigen Lernbedingungen, um seine individuellen Talente und Fähigkeiten kennenzulernen und weiterzuentwickeln?

Warum verhindert dies Entfaltung von Potential?

Der Wunsch nach Messung und Vergleichbarkeit hat dafür geführt, dass Kinder alle am gleichen gemessen werden. Leistungsstark sind danach Kinder, die in allen Schulfächern sehr gute Note erzielen. Nur ist das eine realistische Erwartung, dass jedes Kind ein Albert Einstein, eine Marie Curie, ein Thomas Mann und soweit in einem wird? Die Kanemanns, Maslows und Kants dieser Welt finden wir in dem Fächerkanton der Schulen hingegen gar nicht. 

Individuelle Stärken zu entfalten bedeutet aus meiner Sicht, dass man in mindestens einer Sache richtig gut ist. Ja, Grundlagenwissen und Allgemeinbildung sind daneben auch wichtige Ziele. Im Alltag lebensfähig zu werden allerdings auch.

Dazu kommt, dass in Schulen, Berufsschulen und Hochschulen noch immer die Lehrenden die meiste Zeit die Kontrolle über die Lernsituation und das zu vermittelnde Wissen haben. Die Gestaltungsspielräume der Lernenden sind hingegen klein. Im späteren Privat- und Arbeitsleben wird jedoch eine hohe Selbststeuerung von jedem und jeder erwartet. Diese ist nicht nur für das Meistern von privaten und beruflichen Herausforderungen zentral, sondern auch für das lebenslange (Dazu-)Lernen. Woher soll die Fähigkeit zur Selbststeuerung kommen, wenn sie nicht bereits in Schule und weiterführenden Bildungseinrichtungen gefördert wird?

Warum ist das für unsere gesellschaftliche Entwicklung von Nachteil?

Der Umgang mit einer komplexer werdenden Welt, in der es zu schnellen, teilweise disruptiven Veränderungen kommt, erfordert einen kontinuierlichen individuellen Lern- und Entwicklungsprozess. Er erfordert mündige Menschen, die ihre Lebens- und Arbeitswelt proaktiv mitgestalten. Die Verantwortung übernehmen und sich auf Veränderungen einstellen und neu entstehendes Wissen erwerben. Die gelernt haben, wie sie ihre Lernprozesse selbst gestalten und steuern. Die gelernt haben, sich ihre Welt immer wieder neu zu erschließen und ihr mit Neugierde begegnen.

Die Lösung von Problemen in einer komplexen Welt braucht zudem noch stärker die gute Zusammenarbeit von Menschen mit unterschiedlicher Expertise und mit unterschiedlichen Kompetenzen. Dafür brauchen diese wechselseitiges Verständnis füreinander und sehr gute Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten. Das sind Fähigkeiten, die nur in der Interaktion mit anderen und bei der Erarbeitung interdisziplinärer Lösungen erworben werden. Das passiert nicht in einer fragmentierten und von Lehrenden kontrollierten Lernsituation.

Was muss sich ändern?

Bereits in der Schule braucht es mehr Räume für Lernen, das von den Schülern und Schülerinnen selbst gesteuert wird, alleine jede und jeder für sich und gemeinsam. Das sollte sich fortsetzen in Berufsschulen, Hochschulen und der Weiterbildung. Nur so können Menschen ihren eigenen Interessen nachgehen und ihre individuellen Talente entdecken. Sie bekommen so Raum, die Talente weiterzuentwickeln. Sie lernen, dies selbstgesteuert zu tun.

Lehrende können benötigtes Wissen vermitteln, Impulse geben und bei Bedarf unterstützen. Lehrende können auch die Rolle von Raum- und Strukturgestalter*innen einnehmen. So kann Neues entdeckt und ausprobiert werden.

Das erfordert von Lernenden und Lehrenden ein neues Rollenverständnis. Aus meiner Sicht ist das unausweichlich, denn nur so erwerben Lernende die Kompetenzen zur Bewältigung unserer komplexer werdenden Welt, ergründen dabei ihre Stärken und entfalten ihre individuellen Potentiale. Nur wenn wir die Potentialentfaltung aller fördern, der Unterschiedlichkeit von Menschen in Lernsettings Raum geben und diese Unterschiedlichkeit als Bereicherung in der gemeinsamen Lösung von Problemen erlebbar machen, können wir die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam erfolgreich bewältigen.

Lassen Sie uns Lernsettings schaffen, in denen Menschen erblühen können und nicht nur in eine vorgegebene Richtung wachsen dürfen!

Fußnote: Neben dem Song „Wachsen“ von Lina Maly haben mich zwei Bücher in meiner Meinungsbildung zu diesem Wissensdialog stark beeinflusst, Stolen Focus von Johann Hari und Uncharted von Margaret Heffernan. Beides sind absolute Leseempfehlungen von mir. Und der Song ist eine absolute Hörempfehlung.