Experten zeigen häufig eine geringere Offenheit für neue Impulse auf dem Gebiet ihrer Expertise. Das ist keine gute Voraussetzung, um sich selbst stetig weiter zu entwickeln. Shoshin ist eine Haltung, mit der man sich ein Leben lang Offenheit bewahrt.
Aller Anfang ist schwer – aber nicht beim Lernen
Aller Anfang ist schwer. Diesen Satz habe ich oft gehört, wenn ich etwas Neues gewagt habe. Doch beim Lernen gilt das nicht. Hier ist der Anfang leicht, denn wenn ich mich mit einem neuen Thema beschäftige, mache ich schnell Fortschritte und entwickle bald ein grundlegendes Verständnis für das Thema. Doch mit der Zeit nimmt meine Lernkurve ab, dann muss ich mir meine Fortschritte härter erarbeiten. In Bezug auf das Lernen ist es also von Vorteil, Anfänger*in zu sein – oder zumindest sich für eine*n zu halten.
Shoshin – Der Zauber des ersten Mals
In Japan nennt man diese Haltung eines Anfängers „Shoshin“, was umgangssprachlich „Unerfahrenheit“ oder „Anfängergeist“ bedeutet. Zwar erinnern beide Begriffe eher an Inkompetenz, aber das ist in diesem Zusammenhang keineswegs gemeint. Es geht vielmehr darum, offen zu sein für Neues. Wörtlich übersetzt bedeutet „Sho“ so viel wie „erster“ und „Shin“ kann mit „Geist“ übersetzt werden. Shoshin meint also den „Geist des ersten Mals“.
Shoshin richtet den Wahrnehmungsfokus auf das Einmalige jeder Situation. In der Haltung des Shoshin mache ich mir bewusst, dass ich diese Situation jetzt das erste und einzige Mal erlebe. Ich befreie mich von Gewohnheiten und Vorstellungen. Entsprechend gehe ich mit Offenheit in die Situation und nehme bewusst wahr, welche Vielfalt an Möglichkeiten sich bietet. Der Geist des ersten Mals bezieht sich dabei nicht nur auf den äußeren Raum der Möglichkeiten, sondern auch auf die in mir schlummernden Potentiale.
Im Geist des Experten gibt es nur wenige Möglichkeiten
Studien belegen: Wer sich in einem Bereich für eine*n Expert*in hält, ist für andere Meinungen und Perspektiven weniger offen (Ottati et al., 2015). Hier kommt zusätzlich eine Wahrnehmungsverzerrung zum Tragen – der sog. Confirmation Bias. Dieser Bestätigungsfehler bezieht sich auf die Neigung, bevorzugt solche Informationen aufzunehmen, die mit meinen Überzeugungen übereinstimmen. Wenn ich also beispielsweise der Überzeugung bin, dass mein aktuelles Geschäftsmodell das Beste ist, beschäftige ich mich kaum mit neuen disruptiven Möglichkeiten. Alternative Denkansätze und konträre Aspekte finden somit zu wenig Berücksichtigung. Das führt im schlechtesten Falle dazu, dass Experten sich nicht oder nur kaum weiterentwickeln.
Der japanische Zen-Meister Shunryū Suzuki (2002) prägte dazu den Satz: „In the beginner’s mind there are many possibilities, but in the expert’s there are few.“ Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige.
Nichtwissen ist eine Haltung
Der Anfängergeist kann auch als „Nichtwissen“ bezeichnet werden. In unserer westlichen Kultur gilt zwar das Wissen als professionell, aber aus meiner Sicht gewinnt gerade das Nichtwissen immer mehr an Bedeutung. Damit ist gemeint, nicht immer gleich Lösungen zu suchen, wenn Probleme auftauchen, sondern sich auch mal trauen zu sagen „Ich weiß es noch nicht“. Es geht darum, offensiv und bewusst mit Nichtwissen umzugehen, auch wenn es Offenheit und Mut erfordert, sich einzugestehen, dass man nicht alles wissen kann. Erst aus dieser Haltung heraus eröffnet sich der Raum für Neues.
Ähnlich wie das Growth Mindset nach Carol Dweck (2016) ist Shoshin eine Haltung. Dabei hat eine Person nicht nur ein Mindset: Man hat nicht entweder ein Growth Mindset oder ein Fixed Mindset, sondern man begegnet manchen Themen mit dem einen und manchen mit dem anderen. Auch Shoshin verändert sich je nach Situation und Umfeld. Es handelt sich also nicht um eine konstante Eigenschaft, sondern jeder kann sich sein Leben lang in Shoshin üben.
Wie kann ich Shoshin fördern?
Erstens sollte man sich regelmäßig den so genannten Bestätigungsfehler bewusst machen. Dies meint die Tendenz, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigene Meinung bestätigen. Dies hilft dabei, neuen Impulsen mit Offenheit zu begegnen.
Zweitens ist es ratsam, sich darüber gewahr zu werden, in welchen Bereichen man sich für einen Experten hält und kritisch die eigene Haltung zu hinterfragen, mit der man neuem Wissen in diesen Bereichen begegnet. Um sich einen Anfängergeist zu bewahren, sollte man eine realistische Vorstellung des eigenen Wissens entwickeln – indem man zum Beispiel versucht, ein Thema echten Expert*innen zu erläutern (Johnson et al., 2016). Haben Sie schon mal versucht, jemandem zu erklären, wie ein Smartphone funktioniert?
Übungen zu Achtsamkeit fördern eine bewusste Wahrnehmung im Innen und Außen. Eine konkrete Übung, mit der Sie Ihr Denken in ungewohnten Zusammenhängen üben können: Wählen Sie einen beliebigen Alltagsgegenstand und notieren Sie neben seinem eigentlichen Zweck möglichst viele alternative Verwendungsmöglichkeiten. Was kann man alles mit einer Büroklammer machen? Und wozu eignet sich ein Blatt Papier? Viel Spaß beim Überlegen!
Literatur:
Dweck, C. (2016). What having a “growth mindset” actually means. Harvard Business Review, 13, 213-226.
Johnson, D. R., Murphy, M. P., & Messer, R. M. (2016). Reflecting on explanatory ability: A mechanism for detecting gaps in causal knowledge. Journal of Experimental Psychology: General, 145(5), 573–588.
Ottati, V., Price, E. D., Wilson, C., & Sumaktoyo, N. (2015). When self-perceptions of expertise increase closed-minded cognition: The earned dogmatism effect. Journal of Experimental Social Psychology, 61, 131-138.
Suzuki, S. (2002). Zen-Geist, Anfänger-Geist. 11. Aufl. Theseus, Berlin.