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Ritualisierung als Wissensspeicher | Ein Interview mit Herrn Dr. Michael Mehlmann

Für die Vorbereitung unserer Knowledge Jam@i-Know 2011 interviewte ich Herrn Dr. Michael Mehlmann. Er weist auf die Rolle von Ritualen, d.h. Verankerungen in der Unternehmenskultur, für die Wissensspeicherung in Unternehmen hin und sieht diese Ritualisierung als einen Gegenpol zu Dokumentationen.

Warum beschäftigen Sie sich mit dem Thema Wissensmanagement? Was fasziniert Sie daran?

Die Frage ist sehr umfassend. Ich habe mich mit lernenden Organisationen befasst und jede Organisation, in der Menschen arbeiten, lernt, egal ob sie will oder nicht. Die Frage ist aber: Wo speichert die Organisation das Erlernte? Eine lernende Organisation lernt anders als jeder einzelne Mensch. Ich befasse mich seit Jahren mit dokumentierten Managementsystemen und die Erfahrung der letzten 10 Jahre hat mich gelehrt, dass Wissen auch über Ritualisierung gespeichert kann. Durch Ritualisierung, d.h. Verankerungen in der Unternehmenskultur wie z.B.: „so machen wir das“, kann Wissen praktisch abgespeichert werden. Und Wissensspeicherung und Wissensmanagement sind entscheidend, wenn Organisationen am Mark bleiben und an der Gesellschaft teilhaben und nicht bei jedem Wechsel des Personals von vorne anfangen möchten.

Was bedeutet für Sie erfolgreiches organisationales Wissensmanagement?

Wenn die Organisation für ihren „Change“, den sie permanent macht, zu dem Zeitpunkt des Wechsels genügend Wissen als Ressource bereit hält, um Chancen und Risiken sicher abschätzen zu können.

Was war Ihr größtes Aha-Erlebnis in Bezug auf das Thema Wissensmanagement?

Das war der Lernerfolg, dass Wissen durch Ritualisierung gespeichert werden kann und einen adäquaten Gegenpool zu dem darstellen kann, was dokumentiert wird. Ritualisierung zeigt sich z.B., wenn Personen in Organisationen sagen: „das ist bei uns Standard“, „das gehört zu unserer Kultur“, oder „das machen wir so“.

Ein Beispiel: Das 4-Augen-Prinzip kann man als Richtlinie niederschreiben, das wird man dann 50 Mal machen müssen, oder man kann es in der Kultur verankern, so dass es gar nicht mehr hinterfragt wird. Dann gilt: „Wir haben das 4-Augen-Prinzip, das gilt immer, wenn etwas nach außen geht.“ Diese Dinge braucht man dann nicht niederzuschreiben.

Auch Ritualisierung muss designed werden. Sie kann nur aus einer Unternehmenskultur wachsen, in der man bereit ist, nicht alles schriftlich zu fassen, sondern das Vertrauen dazu hat, dass ritualisierte Formen auch belastbar sind. Es ist die Aufgabe des obersten Managements, einen bestimmten Satz von Handlungen vorzugeben, von denen die Mitarbeiter wissen, dass sie ohne Anordnung und schriftliche Fixierung durchgeführt werden müssen. Es dauert sicherlich länger, Wissen so zu verankern, als es zu dokumentieren.

Interessant ist es, wenn Personen in ein Unternehmen wechseln, die weniger Rituale haben. Ich haben Personen in einem Audit in einem für sie neuen Unternehmen befragt und dabei festgestellt, dass die Ritualisierungen des Ursprungsunternehmens weiter ausgeführt werden. Die Begründung war: „das haben wir in unserem alten Unternehmen auch immer so gemacht“. Häufig sind einzelne Personen nicht in der Lage in einem neuen Unternehmen ihre eigenen Rituale aufzubauen.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten 3 „hot topics“ der nächsten Jahre?

Ich habe da eine eher pessimistische Vorstellung. Ich denke, wir werden uns mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Speicherplatz und Rechnerleistung in einem nächsten Schritt der Simulation von Unternehmensabläufen in ihrer Vernetzung widmen. Sobald die Situation eintritt, dass eine Simulation von Geschäftsprozessen und die daraus resultierenden Entscheidungen den Börsenerfolg eines Unternehmens beeinflusst, dann werden Simulationsergebnisse und nicht Wissen die Entscheidungsgrundlage für das Management sein. Dann wird Wissensmanagement daran orientiert, welches Wissen für die Simulation nützlich ist. Wir werden ein Zeitalter erleben, in dem Simulation die Kreativität als wesentliche Entscheidungsgrundlage zurückdrängt. Wir werden dann zwar Wissen konserviert haben, aber nur noch unter dem Aspekt nutzen, der in Simulationsprogrammen direkt anwendbar ist. Wissen, das nicht direkt dem Gelderwerb dient, wird dann nur abgelegt, aber nicht in der Wirtschaft oder Politik für Entscheidungen genutzt.

Vielleicht wird es eine komplementäre Entwicklung geben, wenn z.B. die Erfahrung oder das Erleben einen vergleichbaren Wert bekommt, wie das Kapital.

Es klingt nach Kapitalismuskritik, aber historisch hat sich nur ein Antagonismus gegenüber dem Kapital bewährt: die Menschen haben früher auch viel Geld verdient aber es gab die Furcht, im Jenseits nicht mehr kaufen zu können. Wenn die Erfahrung wieder wächst, dass es ein höheres Gut als die reine Gewinnmaximierung gibt, dann wird sicherlich auch die Kreativität im Allgemeinen höher bewerten werden. Wenn aber Simulationen börsenwirksam Erfolg oder politischen generieren können, werden es Menschen, die erfahrungsorientiert sind, relativ schwer haben.

Welches ist die aus ihrer Sicht wichtigste technische Innovation, die das Wissensmanagement heute bestimmt?

Ich bin schon etwas älter und nicht auf den neuesten Stand der Computertechnik, aber für mich war der Weggang von Verschlagwortung zum aktiven Suchen einschneidend. Informationen wurden früher verschlagwortet und die Schlagwörter waren die Suchkriterien, was holprig und schwierig war. Die Verschlagwortung war bei dem damals aktuellen Stand vielleicht sinnvoll, aber es war zum Zeitpunkt der Schlagwortauswahl nicht klar, welche Fragen in fünf Jahren gestellt werden. Was mich in fünf Jahren auf bestimmte Informationen führt, kann ich jetzt nicht denken. Jetzt wird alles in einem chaotischen System abgelegt und ich kann dann anhand von Suchprogrammen aus einer großen Anzahl von Dokumenten die für mich aktuell wichtigen Informationen heraussuchen. Dieses aktive Suchen ohne vorhergedacht zu haben zu müssen, in welcher Situation ich es antreffen werde, ist beeindruckend. In Unternehmen diese Art der Wissensspeicherung mittlerweile als wichtig erkannt. Es werden nicht riesige Dateien zum Thema Wissensmanagement aufgebaut, sondern alle Dateien sind wichtig und man muss sie nur unter bestimmten Suchkriterien erschließbar machen, mit Programmen, die in allen Dokumenten suchen können. Das ist sehr wichtig denn wir können jetzt noch nicht denken, was in der Zukunft wichtig sein wird.

mehlmann_michael Dr. Michael Mehlmann, geboren 1953 in Remscheid. Nach Studium der Mineralogie an der Universität zu Köln, Promotion zum Doktor der Ingenieurwissenschaften an der Universität Clausthal. Tätig als Leiter eines verbandsnah betriebenen Forschungsinstituts. Forschungsarbeit, technische Verbandsarbeit, Normungsarbeit in DIN und CEN. Seit 1992 leitender Auditor einer großen deutschen Zertifizierungsgesellschaft. EFQM-Assessor. Dozent und Lehrbeauftragter für Qualitätsmanagement der Universität Siegen. Seit 1994 geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmens für Management- und Organisationsberatung im industriellen und sozialen Bereich. Supervisor (SG). Seit 1998 supervisorische Tätigkeit für Einzelpersonen und Gruppen aus dem Beratungskontext. Six-Sigma-Teamleiter. Seit 2005 Prozessoptimierungen in mittelständischen Unternehmen u.a. nach GMP und Futtermittelrecht.