Das Thema im Management 2.0 MOOC ist in dieser Woche Innovation 2.0. In den Materialien dazu wird der Vernetzung und Zusammenarbeit definitionsgemäß(?) eine kritische Bedeutung gegeben. Sowohl organisationsintern — d.h. für einen regen Austausch der Mitarbeitenden zu sorgen — als auch extern, z.B. um Innovationen outzusourcen, ist die Vernetzung zentral.
Allerdings frage ich mich, ob durch eine starke Unterstützung von Innovation, insbesondere über Web 2.0 Werkzeuge, die dahinter liegende Kreativität nicht auch leicht ersticken kann. Vor allem, wenn man den Blick wie in diesem Dialog auf die Individuen lenkt.
Mihaly Csikszentmihalyi verweist auf das Prozessmodell der Kreativität (siehe Abbildung), das aus den Punkten Beschäftigung mit dem Thema, Inkubationsphase, Einsicht/Aha-Erfahrung, Evaluation, und Elaboration besteht. Dieses Modell ist zyklisch, wird also mehrfach durchlaufen (man braucht üblicherweise mehr als nur eine Idee), wobei Sprünge auch möglich sind. Verbindet man dieses mit den Vor- und Nachteilen von Web 2.0, ergeben sich unter anderem die folgenden Effekte:
Beschäftigung mit dem Thema
Viele Menschen haben Ideen, aber das bedeutet nicht, dass diese Ideen neu oder nützlich sind. Kreative Personen spielen mit ihrem Wissen und ohne dieses Wissen geht es nicht, wenn man nicht gerade an alltäglichen oder reinem „mag ich, mag ich nicht“ Problemen arbeitet (z.B. dem in den Materialien erwähnten Nagellack-Farben). Kreativität setzt normalerweise eine umfangreiche Beschäftigung mit dem Thema voraus. Das gibt es selten zum Nulltarif — weder zeitlich, noch finanziell oder vom Arbeitsaufwand her. Sprich: Man benötigt Personen mit umfangreichen Wissen und dies muss man langfristig entwickeln und fördern.
Hier ist die in den Materialien angesprochene Vernetzung auf der einen Seite hilfreich, um Wissen zu verbreiten und um Kooperationen zu ermöglichen. Allerdings stellt sich auch die Frage, in wie weit die notwendigen intensiven Lernphasen in Zeiten intensiver Vernetzung noch möglich sind. Insbesondere tiefergehendes Wissen setzt eine jahrelange Beschäftigung voraus und kann nicht einfach ‚hergestellt‘ werden. Ständige Erreichbarkeit und sofortiger Zugriff auf Personen ist hier hinderlich.
Inkubationsphase
In klassischen Kreativitätsmodellen gibt es die Inkubationszeit, in der Personen etwas anderes machen und sich — nach intensiver Beschäftigung mit dem Problem(!) — nicht mehr damit beschäftigen.
Entsprechend ist es nicht nur aus Work-Life-Balance Aspekten notwendig, dass die Vernetzung ihre Grenzen hat. Ständige Erreichbarkeit — kontinuierlich an dem Problem zu arbeiten und updates zu erhalten — kann hier negativ wirken. Es muss nicht immer der Airplane-Modus des Smartphones sein, aber den beruflichen eMail-Account gelegentlich abzuschalten (mit der Gewissheit, dass es akzeptiert wird) kann sehr hilfreich sein.
Einsicht/Aha-Erfahrung
Ideen kommen oft plötzlich außerhalb der Situationen, in denen man eigentlich an dem Problem arbeitet — zum Beispiel morgens oder abends im Bett, unter der Dusche, beim spazieren gehen, beim Joggen. Der andere bekannte Ausspruch von Archimedes („Heureka!“) ist hier treffend. Allerdings sind Ideen auch sehr flüchtig — wenn man sie nicht sofort festhält ist die Gefahr groß, dass man sie vergisst — und zwar nicht nur die Idee, sondern auch, dass man die Ideen gehabt hat. Das heißt, dass bei aller Trennung zwischen Arbeit und Privatleben viele Ideen im Privatleben kommen und dort auch festgehalten werden sollten.
Hier sind schnelle und einfache Lösungen hilfreich — von Notizblöcken über SMS über die Notizapp auf Smartphones bis hin zu Servietten wird so ziemlich alles verwendet. Eine Sammlung hilfreicher Methoden gibt es in Wessel, 2012.
Evaluation
Eine Idee an sich ist noch nicht gut, sie muss bezüglich ihrer Qualität bewertet werden. Hier ist zu bedenken, dass auch schlechte Ideen die Grundlage für bessere Ideen bilden können.
Hier sehe ich auch eine große Stärke von Web 2.0 Tools — sie ermöglichen es, die Idee schnell und sogar anonym zu teilen (à la Delphi-Methode). Die Bewertung der Ideen wird hiermit von der Bewertung der Person getrennt, was beim Brainstorming trotz entsprechender Vorgaben oft nicht gegeben ist.
Elaboration
Ideen sind meist unvollständig oder werfen bei ihrer Umsetzung weitere Probleme auf, die — durch weitere gute Ideen — gelöst werden müssen. Auch hier können Web 2.0 Tools schnell Personen und Ideen zusammenführen und eine weitere Elaboration der Ideen über das konkrete Meeting hinaus ermöglichen.
Insgesamt denke ich, dass Web 2.0 Tools zwar in einigen Bereichen Kreativität und Innovation unterstützen können (Beschäftigung mit dem Thema, Evaluation, Elaboration), sie aber auch negative Auswirkungen auf andere Bereiche haben können (Inkubationsphase, Aha-Erfahrung).
Auch sollte man die Technik — bei allem Einfluss — nicht überbewerten. Wenn bestimmte Vorbedingungen nicht gegeben sind, wird auch die kollaborativste Technologie nicht dabei helfen, innovativer zu werden. Relevante Punkte sind zum Beispiel:
Kultur schlägt Technik
In den Informationsmaterialien ist es angesprochen — die Rolle der Organisationskultur. Technische Lösungen können schnell als Allheilmittel angesehen werden, Letztendlich können sie eine innovationsfeindliche Kultur aber nicht korrigieren. Web 2.0 Lösungen (soziale Netzwerke, Wikis, etc.) dürfen nicht als Ersatz für die Entwicklung einer tatsächlichen Unterstützung von Kreativität in Unternehmen eingeführt werden. Hier könnte die Vernetzung sogar das Gegenteil bewirken — denn auch eine Aversion gegen Innovation lässt sich über soziale Netzwerke kommunizieren und in Wikis abbilden. Man sieht nicht nur, was diskutiert wird und wozu Ideen gesammelt werden, sondern auch, was aus diesen Ideen wird (und wo sie gemeuchelt werden).
Risiken von Kreativität gehören dazu
Web 2.0 Lösungen mögen „sicher“ wirken, das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Kreativität immer mit Risiko verbunden ist. Man bewegt sich in „Neuland“ und niemand kann garantieren, dass sich die Investitionen auch auszahlen — in Ideen oder im ROI bei umgesetzten Ideen. Man kann versuchen die Kosten auszulagern, z.B. indem man Ideen extern über Wettbewerbe entwickeln lässt, aber die Kosten sind dennoch vorhanden.
Zwar wirken Lösungen wie die Ideenfindung (mit allen Kosten und Risiken) zu delegieren sehr charmant, allerdings stellt sich die Frage, in wie weit dies langfristig ein Innovationsmodell sein kann. Konkurrenten können auf diese externen Personen ebenfalls zugreifen, die Entwickler/innen könnten die Ideen auch selbst umsetzen, und gerade bei komplexeren Problemen ist es nicht immer gegeben, dass man auch ausreichend kreative Personen mit dem notwendigen Hintergrundwissen findet. Ohne die notwendige Risikobereitschaft und Bereitschaft, „Fehler“ zu machen und daraus zu lernen, ist Kreativität nicht möglich.
Motivation vs. Druck kreativ zu sein
Zwar ist es durchaus positiv, dass Innovation und Kreativität einen hohen Stellenwert erhalten haben. Allerdings kann der Fokus auf Kreativität schnell in einem Druck ausarten, auch kreativ zu sein — und das ist Gift für jede Kreativität. Druck, insbesondere in Verbindung mit Furcht, führt eher zu einer Abnahme von Ideen, zu konvergenten statt zu divergentem Denken. Man fokussiert sich auf bestehendes statt neue Ideen zu generieren.
Zwar sollte die Organisation glaubhaft(!) deutlich machen, dass sie offen für neue Ideen ist und die Mitarbeitenden auch entsprechend würdigt, allerdings sollte dies nie in eine „jetzt hab aber mal Ideen“ Botschaft ausarten.
Gute Diagnostik und individuelle Lösungen sind notwendig
In jedem Fall muss man sie sehr gezielt einsetzen — unter Beachtung von anderen Faktoren, welche die organisationale Kreativität mitbestimmen. Todd Lubart hat auf der EAWOP 2013 in einem Workshop darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche Anforderungen haben und man sehr genau diagnostizieren muss, wo und wie man Kreativität unterstützen muss. Entsprechend muss man gerade „one size fits all“ Lösungen — auch wenn sie mit einem 2.0 daher kommen — kritisch sehen.
Titel: „Störe meine Kreise nicht!“ ist ein Zitat von Archimedes
Bildnachweis: Graphische Abbildung der traditionellen Beschreibung des kreativen Prozesses, basierend auf Csikszentmihalyi, M. (1996). Creativity. Flow and the Psychology of Discovery and Invention (pp. 79ff). New York: HarperPerennial.