Bloß nix entscheiden! Abstimmung in selbstorganisierten Teams

Sich selbst zu organisieren heißt in erster Linie, entscheidungsfähig zu werden. Doch Gruppen tun sich schwer, Entscheidungen zu fällen. Und die bekannten Format, Abstimmen und Ausdiskutieren, helfen nur sehr begrenzt weiter.

Wenn Teams beginnen, sich selbst zu organisieren, müssen sie lernen, im Team zu entscheiden; und zwar oft, schnell und einvernehmlich. In der Hierarchie entscheidet jede:r für sich und was das Team betrifft, entscheidet die Chef:in. Entscheiden ist eine klassische Führungsaufgabe. Dem liegen drei Annahmen zugrunde:

  • Wer entscheidet, hat die Macht. 
  • Teams verfügen nicht über die notwendigen Informationen, um Entscheidungen im Sinne der Organisation zu treffen.
  • Entscheidungen in Gruppe mit heterogenen Vorstellungen und Interessen sind mühsam oder unmöglich. 

Doch Fürungsaufgaben zu verteilen, heißt Entscheidungen ins Team zu geben. Wie kann das aussehen?

Entscheidungen sind der erste große Unterschied und ein Team ist erst dann arbeitsfähig, wenn es in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, getroffene Entscheidungen umzusetzen und Entscheidungen, wo nötig, auch zu revidieren.

Fragt man Menschen nach ihren Erfahrungen mit Gruppenentscheidungen, scheinen zwei Arten von Erinnerungen zu dominieren: Endlose Diskussionen in Gruppen an deren Ende sich die Partei durchsetzt, die den längeren Atem hatte und an Abstimmungen die die Gewinner leuchten und die Verlierer schmollen ließen. Beides sind keine sonnigen Aussichten für eine Zusammenarbeit, die doch agil, also flink, flexibel und kollegial sein soll. Dieser Herausforderung müssen sich alle Konzepte für Selbstorganisation und agiles Arbeiten stellen. 

Selbstorganisation braucht Verfahren, wie Gruppen entscheiden können – möglichst agil, flexibel und ohne die Machtfrage zu stellen. Dazu sind eine Vielzahl von Verfahren wieder entdeckt oder neu entwickelt worden. Ausgangspunkt vieler Verfahren der Gruppenentscheidungen ist die Einsicht, dass nicht alle Mitglieder gleich, sondern dass die Mitglieder in unterschiedliche Entscheidungen unterschiedlich involviert sind.

Teams in der Selbstorganisation brauchen Entscheidungsverfahren, die diese Ungleichheit anerkennen und so umsetzten, dass diejenigen, die involviert, informiert oder am stärksten betroffen sind auch den größten Einfluss auf Entscheidungen haben. Es gibt gute, auch einfache Alternativen sowohl zu langen Diskussion mit dem Ziel der Einstimmigkeit (Konsens) als auch zur Abstimmung. Doch man muss sie kennen. Sie lassen sich nach fünf Prinzipien unterscheiden:

Das Prinzip der Einstimmigkeit (Konsensentscheidungen)

Der Konsens scheint für viele Menschen, der Idealtyp einer Gruppentscheidung zu sein. Doch es stößt schnell an die Grenzen von Zeit und Kraft der Teammitglieder. Timeboxing, Gesprächsregeln können in Grenzen Erleichterung verschaffen.

Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung (Abstimmung)

Abstimmungen können sehr unterschiedlich umgesetzt werden. Klassische Abstimmung beenden das Gespräch, produzieren Gewinner und Verlieren und unterstützen die Kooperation eher nicht. Doch auch für Mehrheitsentscheidungen gibt es Varianten, in denen Minderheiten durch besondere Rechte geschützt werden, Vetorechte eingeführt werden etc.

Das Prinzip der eigenmächtige Entscheidungen

Ich bin ein großer Fan dieses Prinzips, denn ich glaube viele Mitarbeiter:innen könnten gute Entscheidungen treffen, wenn Sie weniger Angst hätten, Fehler zu machen. Hier geht es darum, dass der:die relevante Akteur:in eigenmächtig entscheidet. Transparenz, Feedback und Revidierbarkeit können helfen, die Entscheidungen in den Teamprozess einzubetten.

Das Prinzip der gestuften Entscheidungsverfahren

Zwei- oder mehrstufige Entscheidungsverfahren bewähren sich besonders in Konfliktfällen und sind Verfahren, in denen man sich zuerst über eine Verfahrensabfolge verständigt, bevor der eigentlich strittige Inhalt verhandelt wird. Für Entscheidungen, die immer wieder konfliktreiche sind, kann es kann sinnvoll sein, grundsätzlich ein gestuftes Entscheidungsverfahren zu entwickeln und zu vereinbaren,. 

Das Konsentprinzip 

ist ein Entscheidungsprinzip aus der Soziokratie, geht zurück auf seinen Gründer ​​Gerard Endenburg und ist heute die zentrale Entscheidungsmethode in der Holacracy. Es basiert auf der Grundidee, das nicht die Mehrheit entscheidet, sondern diejenigen, die über die relevanten Informationen verfügen und von der Entscheidung betroffen sind. Doch sie entscheiden nicht im stillen Kämmerlein sondern stellen ihre Entscheidungen im Team vor. Die Anwesenden werden lediglich befragt, ob es relevante Bedenken gibt. Das Konsentprinzip beruht so nicht auf der Frage: sind alle dafür oder hat jemand noch eine bessere Idee. Denn bessere Ideen kann es immer geben, wie soll man da je entscheiden. So wird Raum geschaffen, Dinge auszuprobieren. 

Wir sehen, es gibt viele Entscheidungsformate, die Teamarbeit stärken und die Fallen von Konsens und Abstimmung vermeiden helfen. (mit denen man sich ausführlicher beschäftigen sollte, wenn man sie anwenden will). Wie also kommen diese Verfahren ins Team? Karl Schattenhofer und ich haben in den letzten Jahren viele Teams begleitet und konnten zwei unterschiedliche Wege beobachten, die beide gut funktionieren können:

  1. Unter Beteiligung der Betroffenen kann für die gesamte selbstorganisierte Einheit ein Entscheidungsverfahren festgelegt werden (wie es etwas der Fall ist, wenn Holacracy als Framework eingeführt wird).
  2. Man kann die Teams im Entscheiden qualifizieren und ihnen die Verfahren beibringen. Dann werden sie – so unsere Beobachtung – im ersten Schritt gestufte Entscheidungsverfahren wählen und sich so die Methoden erarbeiten, bis sie für bestimmte Entscheidungen bestimmte Methoden festlegen. 

Wichtig ist vor allem eines: Teams sollten lernen und erproben, welche Alternativen zu Konsens und Abstimmung es gibt und wann und wie sie funktionieren. Die Qualifizierung macht den ersten großen Unterschied.

Ausführlichere Darstellungen dieser Entscheidungsprinzipien und Erfahrungsberichte von Teams, die damit arbeiten, können in unserem Buch nachgelesen werden: Brinkmann, B. & Schattenhofer, K. (2022). Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation – Sechs Aufgaben, damit Teams arbeitsfähig werden – und welche Rolle Führung dabei spielt. Vahlen. Link zum Buch

Sich selbst zu organisieren heißt in erster Linie, entscheidungsfähig zu werden. Doch Gruppen tun sich schwer, Entscheidungen zu fällen. Und die bekannten Format, Abstimmen und Ausdiskutieren, helfen nur sehr begrenzt weiter.

Babette Brinkmann ist Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Organisations- und Gruppenpsychologie an der TH Köln. Sie ist Supervisorin (DGSv), Trainerin für Gruppendynamik (DGGO) und Mitglied bei Tops München-Berlin e.V.
Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Selbstorganisation, Diskurs und gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie soziale Nachhaltigkeit.

Gastautor_in

Unter diesem Pseudonym schreiben die Gastautoren von wissens.dialoge.