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Ein gutes Fahrrad für den menschlichen Verstand bauen

Ich beschäftige mich derzeit verstärkt mit Evaluationen, insbesondere im Bereich der Entwicklung von digitalen Anwendungen. Auch wenn bei digitalen Anwendungen natürlich das System (und dessen Programmierung) im Vordergrund steht, ist es für Psychologen ein extrem interessantes Gebiet, auf dem sie viel beitragen können. Denn letztendlich sind das technische System und der Mensch, der es benutzt, untrennbar verbunden.

Um dies zu verdeutlichen ist ein altes Zitat von Steve Jobs sehr hilfreich, das auch nach einem knappen Vierteljahrhundert immer noch aktuell ist. Im Jahr 1991 hat Steve Jobs die wahrscheinlich beste Beschreibung der Bedeutung eines Computer für den Menschen gegeben. Er verglich Computer mit einem Fahrrad für unseren Verstand („What a computer is to me is the most remarkable tool that we have ever come up with. It’s the equivalent of a bicycle for our minds.“).

Hintergrund war eine Studie im der die Effizienz der Fortbewegung verschiedener Tiere sowie des Menschen verglichen wurde. Der Kondor benötigte die geringste Energiemenge pro Kilometer, Menschen kamen erste nach ca. 1/3 der Liste. Wenn allerdings ein Mensch ein Fahrrad verwendete übertraf dieser den Kondor bei weitem.

Die Metapher des Computers als Fahrrad für unseren Verstand war nicht nur aus Marketinggründen hervorragend. Sie trifft auch den Kern von dem, was uns Menschen auszeichnet. Schließlich definieren wir uns, gerade in Abgrenzung zu Tieren, nicht über unsere Effizienz beim Laufen, sondern über unsere Intelligenz, unseren Verstand, unser Denken. Ein Werkzeug, dass beim menschlichen Verstand ansetzt, das setzt bei dem an, was uns in der Natur auf diesem Planeten einen besonderen Platz gegeben hat. Und es gibt unzählige Einsatzszenarien, bei denen Computer unseren Verstand unterstützen können, die z.T. auch auf diesem Blog vorstellt werden (z.B. Mobiles Lernen, Gamification, Persuasive Technology, Mobile „Electronic Performance Support Systems“, etc.).

Metaphorisch lässt sich die Fahrrad-Metapher allerdings noch etwas erweitern. Und das betrifft die Eingangs angesprochene Entwicklung von digitalen Anwendungen und deren Evaluation.

Wenn man ein Fahrrad baut, dann sollte man es u.a. so bauen, dass die Personen die Pedale erreichen können, dass der Lenker funktioniert wie gedacht, und dass sie damit nicht aus versehen den Abhang herunterfahren. Kurz, man benötigt ein Modell des Menschen, das die relevanten zu unterstützenden Teilaspekte abdeckt. Zum Beispiel die Art, wie er denkt (Kognitionen), fühlt (Emotionen), was ihn bewegt (Motivation), usw. Idealerweise eines, das auf guten Theorien basiert und entsprechend empirisch überprüft wird.

Bezüglich Theorien trifft Lewin’s Aussage zu, dass nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie. Eine wissenschaftliche Theorie über den Menschen — oder eher, Teilaspekte des Menschen (z.B. Denken) — ist wie eine Lupe, die es uns erlaubt herauszufinden, wie diese Prozesse funktionieren und wo die Stellschrauben sind, um auf diese Prozesse Einfluss zu nehmen. Natürlich erlaubt eine Theorie nur einen Blick auf die Aspekte, mit denen sich die Theorie auch befasst. Sie sieht einige Dinge im Detail, während andere Aspekte — welche laut Theorie nicht relevant sind — wegfallen (ob diese auch praktisch oder nur ideologisch irrelevant sind, ist eine andere Frage). Damit kann eine Theorie den Blick auch extrem verzerren (und nicht alles was sich „Theorie“ nennt oder als solche verwendet wird, erfüllt auch die Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie). Trotz allem stellen wissenschaftliche Theorien den besten Werkzeugkasten zur Verfügung, mit dem man Veränderungen beim Menschen erreichen kann, und aus dem man die für die gegenwärtigen Ziele und Möglichkeiten am besten passende Theorie auswählen muss.

Ebenso wichtig ist eine Überprüfung, ob die angenommene Wirkung auch erreicht wurde. Hier trifft Wernher von Braun’s Aussage zu, dass ein guter Test tausend Expertenmeinungen wert ist. Theorien und Interventionen müssen an der Realität überprüft werden. Und gerade wenn ein Interessenskonflikt vorliegt, also zum Beispiel die Entwicklung unter großem zeitlichen oder finanziellen Aufwand durchgeführt wurde, ist eine objektive Überprüfung dessen Wirkung nicht einfach. Es ist verlockend und sehr selbstwertdienlich, die Überprüfung ausfallen zu lassen oder so durchzuführen, dass der angenommene Effekt zwar gefunden wird, aber nicht aufgrund der Eigenentwicklung (vergleiche z.B. die Dialoge über verzerrte Studien). Letztendlich ist dieses Vorgehen, Effekte nur anzunehmen aber nie zu überprüfen, zwar nachvollziehbar, aber auch feige. Schlimmer ist nur noch, bei einer gefundenen Abweichung der Ergebnisse vom Wunschergebnis die Nutzer/innen verantwortlich macht (PEBKAC). Die Nutzer/innen verantwortlich zu machen wird vor allem dann peinlich, wenn jemand etwas entwickelt, was wirklich funktioniert — auch mit „schlechten“ Nutzern/innen. Hinzu kommt, dass man sich bei ausbleibender Empirie einen weitereren Vorteil nimmt: eine gute empirische Überprüfung hilft einen, neue Ideen, bisher unbeachtete Probleme (für die Entwicklung von Lösungen) und andere Hypothesen zu finden.

Sowohl eine gute (psychologische) theoretische Basis als auch eine gute Überprüfung (v.a. über formative und summative Evaluationen, da Experimente in diesem Kontext oft nur schwer möglich sind) setzen einiges an Expertise, Zeit für eine gute Literaturrecherche und saubere Planung voraus. Und es ist anzunehmen, dass diese Grundlagen und Überprüfungen in Zukunft zunehmend wichtiger werden.

Die technische Seite einer Entwicklung wird immer besser durch Werkzeuge unterstützt und die notwendigen Fertigkeiten (z.B. Programmieren) sind inzwischen recht weit verbreitet und es gibt online dazu viel Unterstützung. Ein Blick in einen App Store zeigt die Vielfalt an Programmen und der dahinterstehenden Entwickler/innen. Um sich hier noch positiv abzuheben wird es immer wichtiger, genau die relevanten psychologischen Prozesse zu unterstützen.

Und hier kann die Psychologie als empirische Wissenschaft von der Beobachtung, Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Kontrolle des Erlebens und Verhaltens einiges beitragen.

Es lohnt sich also, den Beitrag der Psychologie auch bei der Entwicklung digitaler Anwendungen ernst zu nehmen. Schließlich macht es wenig Sinn, viel Arbeit in eine Entwicklung zu investieren aber dabei — bezüglich der unterstützen Prozessen — das Rad einfach nur neu zu erfinden. Oder Teile der Zielgruppe zu ignorieren und zu erwarten, dass ein Profitradrennfahrer mit einem kleinen Dreirad ebenso zufrieden ist, wie ein kleines Kind (dafür hat der Profitradrennfahrer echt nicht so lange trainiert oder Drogen genommen).

Kurz, wenn man ein Fahrrad für den menschlichen Verstand baut, dann sollte man auch wissen, wie der menschliche Verstand funktioniert (oder funktionieren könnte). Und ob das Fahrrad auch wie erwartet funktioniert. Und ob die Nutzer/innen auch am gewünschten Ziel ankommen. Nur dann ist ein Computer wirklich ein gutes Fahrrad für den menschlichen Verstand.