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Die durchschnittliche Person ist nicht durchschnittlich, oder: Warum man die Komplexität eines Individuums nicht auf einen Mittelwert reduzieren sollte

Der Durchschnitt ist den meisten Personen seit den Klassenarbeiten aus der Schule bekannt — wahrscheinlich haben viele Personen damit ihre ersten Erfahrungen eines sozialen Vergleichs gesammelt: Liege ich im Rahmen? Bin ich besser als der Durchschnitt? Oder schlechter?

Diese Vergleiche setzen sich in der Arbeitswelt munter fort: Durchschnittliches Einkommen, durchschnittliche Arbeits- oder Studienzeit, durchschnittliche Krankheitstage, durchschnittliche Zeit bis dieses oder jenes positive oder negative Ereignis eintrifft — die Beispiele sind vielfältig. Und wie bei Klassenarbeiten kommen wir oft nicht umhin, uns mit diesen Werten zu vergleichen. Liegen wir im Rahmen? Müssen wir uns Sorgen machen? Können wir uns freuen? Und nicht nur wir vergleichen uns mit diesen Werten. Andere Personen vergleichen unsere Werte mit den Durchschnittswerten.

Und das betrifft nicht nur konkrete Mittelwerte, sondern auch die umgangssprachliche Verwendung des Durchschnitts: Was macht die typische Person? Wie ist der/die durchschnittliche Nutzer/in? Die Vorstellung davon, was durchschnittlich oder „normal“ ist, leitet oft unser Handeln.

Das alles wäre in Ordnung, wenn der Durchschnitt einen guten Anhaltspunkt für Entscheidungen geben würde. Und ja, der Durchschnitt bietet einen besseren Anhaltspunkt als das reine Raten. Es gibt allerdings gute Argumente dafür, dass der Durchschnitt für viele relevante Bereiche ein unzureichendes und fehlleitendes Maß ist.

Cover von The End of Average: How We Succeed in a World That Values Sameness
Cover von „The End of Average: How We Succeed in a World That Values Sameness“

Ein Buch, das überzeugend und kurzweilig für eine kritische Betrachtung des Durchschnitts argumentiert, ist „The End of Average. How We Succeed in a World That Values Sameness“ [Das Ende des Durchschnitts. Wie wir Erfolg haben in einer Welt, die Gleichheit schätzt.] von Todd Rose.

Rose kritisiert, dass der Durchschnitt oft als zuverlässiges Maß dafür gesehen wird, was „normal“ ist (insbesondere wenn es um physische und psychische Gesundheit, Persönlichkeit, oder ökonomischen Status geht), und dass der Rang eines Individuums basierend auf einer Leistungsmessung (z.B. IQ Test, Notendurchschnitt, etc.) oft fälschlicherweise als allgemeines Maß für das Talent einer Person gesehen wird.

Dabei geht Rose durchaus differenziert vor: Für Gruppenvergleiche ist der Durchschnitt hilfreich, z.B. ob eine Gruppe eine bessere Leistung zeigt als eine andere. Aber sobald eine Entscheidung über ein Individuum getroffen wird, ist der Durchschnitt nach Rose nicht nur nutzlos, sondern schädlich: Der Durchschnitt erzeugt eine Wissensillusion, weil er zwar sehr eindeutig und klar wirkt, aber Individuen sich nicht auf Mittelwerte reduzieren lassen.

Individuen, auch innerhalb von Gruppen, sind sehr unterschiedlich. Und diese Unterschiede — diese Individualität — sollte man beachten. Insbesondere wenn Personen nicht nur einigermaßen in der Organisation „funktionieren“, sondern wirklich Spitzenleistungen erbringen sollen.

Rose postuliert drei Prinzipien der Individualität — Jaggedness [Zerklüftetheit], Context [Kontext] und Pathways [Pfade] — welche die Komplexität des Individuum zeigen und die Wissensillusion des Durchschnitts offen legen sollen.

1. Jaggedness Principle [Zerklüftetheit-Prinzip]: Ein Mittelwert verdeckt, dass die gemessene Eigenschaft aus verschiedenen, nur schwach zusammenhängenden Dimensionen bestehen kann. Das Profil einer Person ist in vielen Fällen zackig — mit Werten über bzw. unter dem Mittelwert — die der Mittelwert als eindimensionales Maß nicht abbilden kann. Rose gibt hier mehrere Beispiele, z.B. was physische Eigenschaften betrifft (Körpergröße, Armlänge, Brustumfang, etc.):

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Beispiel für das „Jaggedness Principle“ aus Rose, T. (2016). The End of Average. How We Succeed in a World That Values Sameness. New York: HarperOne.

Das Problem ist hier, dass bezüglich der verschiedenen Dimensionen nur wenige Personen überall „im Durchschnitt“ liegen und sehr unterschiedliche Personen den selben Mittelwert erhalten können (siehe Abbildung oben). Rose zitiert hier eine Studie mit Piloten, bei denen weniger als 2% der Piloten „durchschnittlich“ bezüglich 4 oder mehr physischer Dimensionen waren — und niemand auf allen Dimensionen im Durchschnitt lag (durchschnittlich hier: mittlere 30%). Praktisch heißt das, dass ein Cockpit-Design für den/die „durchschnittliche/n“ Piloten/in eine Katastrophe ist. Es passt für kaum jemanden und führt zu vielen, oft gravierenden Fehlern. Kein Wunder, dass man dazu übergegangen ist, ein Cockpit (Sitz, Pedale, etc.) für die Dimensionen individuell anpassbar zu machen.

Die „Zackigkeit“ von Profilen ist nicht nur bei physischen Eigenschaften gegeben, sondern auch für viele andere menschliche Charakteristiken (z.B. Talent, Intelligenz, Charakter, Kreativität, etc.). Zum Beispiel können zwei Personen den selben Intelligenzquotienten aufweisen, aber komplett unterschiedliche Stärken und Schwächen in den zugrunde liegenden Dimensionen besitzen. Ein Mittelwert verdeckt diese Unterschiede.

Bezüglich des kognitiven Bereichs wäre eine naheliegende Lösung für die Personalauswahl, eine Person zu wählen, die weit überdurchschnittlich ist. Um weit überdurchschnittlich zu sein müsste sie auf (fast) allen zugrundeliegenden Dimensionen sehr gut sein. Die Frage ist allerdings, wie diese Person auf anderen relevanten Dimensionen (hier: jenseits von Intelligenz) abschneidet. Und ob man eine solche Person bekommt, wenn dieses Einstellungskriterium auch von anderen Organisationen gewählt wird. Es macht hier mehr Sinn individuell nach den Stärken zu suchen, die zum Profil passen.

2. Context Principle [Kontext-Prinzip]: Mit dem Kontextprinzip weist Rose darauf hin, dass Verhalten immer nur mit Bezug auf bestimmte Situationen erklärt bzw. vorhergesagt werden kann. Anstatt den Fokus auf überdauernde Persönlichkeitseigenschaften zu legen, die immer gelten sollen (z.B. eine Person ist generell „gewissenhaft“), plädiert Rose dafür, „Wenn-Dann“ Regeln zu verwenden (zurückgehend auf Shoda). Diese beziehen sich im Wenn-Teil auf spezifische Situationen. Man mag z.B. gewissenhaft Auto fahren, aber das heißt nicht, dass man in allen Situationen gewissenhaft agiert. Entsprechend trifft „Wenn Person x Auto fährt, dann ist sie gewissenhaft.“ besser zu als „Person x ist gewissenhaft“ (unabhängig von der Situation).

Das ist ein Angriff auf die weit verbreitete Ansicht, dass Personen überdauernde und situationsunabhängige Persönlichkeitseigenschaften aufweisen. Und das ist nicht nur ein Schlag gegen unser subjektives Gefühl von Sicherheit im Umgang mit anderen Personen (wenn Personen einfach „so oder so“ sind, erlaubt das scheinbar Vorhersagen unabhängig von der Situation und der eigenen Person), sondern auch gegen eine sehr aktive Testindustrie die mit diesen Persönlichkeitstest viel Geld verdient.

Eine Kontext-Sichtweise hat jedoch erhebliche Vorteile, insbesondere bei der Personalauswahl. Es richtet den Fokus weg von einer (vermutlich nicht existierenden) „Essenz“ der Person, hin zu der Leistung in bestimmten Situationen. Anstatt zum Beispiel einen „guten Kommunikator“ zu suchen (der dann ja universell gut kommunizieren können sollte, unabhängig von der konkreten Situation), würde man eine Person suchen, die in der konkret geforderten Situation gut kommunizieren kann (z.B. gut Vorträge halten kann vs. Personen im Zweiergespräch überzeugen kann vs. gut Kunden/innen-Bedürfnisse herausfinden kann). Die individuelle Passung steht stärker im Vordergrund. Kandidaten, die insgesamt („im Durchschnitt“) vielleicht nicht geeignet zu sein scheinen, können sich als die ideale Wahl erweisen.

3. Pathways Principle [Pfade Prinzip]: Im dritten Prinzip argumentiert Rose dafür, dass es für jedes Ziel viele verschiedene gleichermaßen gültige Wege gibt, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Es hängt vom Individuum ab, welcher Weg für diese Person optimal ist.

Rose kritisiert hier das normative Denken, dass es einen besten Weg geben soll, etwas zu erreichen. Insbesondere in der Schule, aber auch in vielen formalen Weiterbildungen, gibt es oft klar vorgegebene Wege, was wann und wie zu lernen ist. Rose verweist hier auf Bloom, der den Zusammenhang von Lerngeschwindigkeit und Fähigkeit widerlegt. Nur weil Personen langsamer lernen, heißt das nicht, dass diese nicht ebenso gut werden können, wie Personen, die sehr schnell lernen. Sie benötigen nur mehr Zeit, ein hohes Niveau zu erreichen. Bloom verweist auf hohe individuelle Unterschiede in der notwendigen Lernzeit — insgesamt bis das Material verstanden wurde, aber auch bezüglich bestimmter Lerneinheiten (manches geht für eine Person sehr schnell, anders dauert länger). Ein starres Lernprogramm wird den individuellen Unterschiedenen nicht gerecht und führt oft zum scheitern — verglichen mit Programmen, die mehr Flexibilität erlauben. Und heutzutage haben wir die notwendige Technologie (z.B. MOOCs, Lernprogramme, etc.) die ein individuelles Tempo bezüglich der Übungseinheiten erlauben.

 

Fazit

Insgesamt geben die drei Prinzipien und die von Rose gebrachten Studien und Beispiele — u.a. von real existierenden Unternehmen — gute Gründe dafür, kritisch über die Verwendung von eindimensionalen Bewertungen und „normalen“ Verläufen als Referenzmaßstab nachzudenken. Zwar wird Rose oft von seinem eigenen, eher untypischen Lebenslauf beeinflusst, aber insgesamt ist seine Argumentation solide.

Rose geht noch auf diverse andere Aspekte ein, bei denen das Individuum zu kurz kommt. Unter anderem kritisiert er Versuche, das Verhalten von Individuen basierend auf ihrer Gruppenzugehörigkeit vorhersagen zu wollen. Hierfür müssten zwei Bedingungen gegeben sein: zum einen müssten alle Mitglieder einer Gruppe identisch sein, zum anderen dürfen sich die Mitglieder der Gruppe nicht verändern. Das diese Annahmen oft stillschweigend vorausgesetzt werden aber nur in den allerseltensten Fällen (wenn überhaupt) gegeben sind, wird dabei ignoriert. Weitere interessante Punkte sind u.a. Argumente, das es „das typische Gehirn“ oder viele „typische Entwicklungsverläufe“ nicht gibt.

Und ja, der Durchschnitt mag zu Zeiten einer tayloristischen Industriegesellschaft mit beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten ausreichend gewesen sein. Mehr war technisch nicht möglich, und es war immerhin besser als eine Zufallsauswahl. Standardisierung war der Weg eine hohe Leistung zu erreichen, Individualität war ein Störfaktor den man ausschalten musste. Aber die Zeiten haben sich geändert: Für die Arbeiter/innen was die Ansprüche an die Tätigkeit betrifft, für die Unternehmen was Kreativität und Innovation betrifft (die bei einer Standardisierung auf den/die durchschnittliche/n Arbeiter/in auf der Strecke bleibt). Und wir haben die Technologie um Personen differenzierter zu betrachten und Arbeitsprozesse individueller zu gestalten — anstatt alles auf einen Durchschnitt zu reduzieren, der für niemanden passt.

Es mag zwar komisch klingen, weil die (westliche) Welt oft als sehr individualistisch bezeichnet wird, aber ich denke ebenfalls, das das Individuum oft zu kurz kommt. In letzter Zeit v.a. durch Bestrebungen, Personalentscheidungen nicht von individueller Leistung und Passung, sondern stattdessen von Gruppenzugehörigkeiten abhängig zu machen. Das ist eine überraschend kollektivistische Herangehensweise, die weder der Komplexität der Individuen noch den Anforderungen von Organisationen gerecht wird.

Insgesamt kann ich also Rose’s „The End of Average. How We Succeed in a World That Values Sameness“ sehr empfehlen.

 

Rose, T. (2016). The End of Average. How We Succeed in a World That Values Sameness. New York: HarperOne.

Bildnachweis: By No machine-readable author provided. SchuminWeb assumed (based on copyright claims). [CC BY-SA 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:July_4_crowd_at_Vienna_Metro_station.jpg